FUNKTIONAL-TRANSLATORISCHE
CHIRURGIE oder: DAS FALSCHE LÄCHELN DER MONA LISA
Von Rainer Kohlmayer.
Personen:
PECUNIA VAN PAARDAPPEL, Industriellenwitwe
HUGO WURSTLER, Verkaufschef der Kulturverwertungsfirma
ANYTHING GOES GmbH
HUGO (ohne aufzublicken). Sie wünschen?
PECUNIA. Mein Gemahl. Paardappel.
HUGO (ergriffen). Pardon, Frau van Paardappel. Sehr, sehr
tragisch. Mein ganz aufrichtiges... (Schluchzt.) Bitte,
nehmen Sie Platz. Er war ein großer Mensch. Ein guter
Kunde. Bis zum Tod ein Zeitgenosse... (Trocknet sich die
Tränen ab.)
PECUNIA (setzt sich. Dann resolut). Man muß weiterleben.
Die Paardappel AG wird weiterleben. Die Trauerfeier soll zu
einer Demonstration unserer Bonität werden.
HUGO (greift zum Telefon). Ganzseitige Anzeigen.
Respekteinflößender Trauerrand. Sehr werbewirksam.
PECUNIA. Schon veranlaßt. Ich komme wegen des kulturellen
Teils der Trauerfeier. Musik, dichterisches Wort, Kunst.
HUGO. Das Erstklassigste. Weißhaariger Stardirigent, die
Bonner Repräsentationsriege, die Berliner Philharmoniker,
tief-religiöse Kunst aus heimischem Kulturbereich. Sie
zahlen eine Pauschale, wir liefern ergreifende Trauer in
sieben Abstufungen. Hier unser Sortiment. Die Trauerpalette
ist...
PECUNIA. Ich nehme das Ergreifendste. Geld spielt keine
Rolle. Alex hatte eine phantastische Sterbeversicherung.
(Sie zerquetscht eine Träne. HUGO bindet sich eine schwarze
Krawatte um.) Ein Finanzgenie...! (Fromme Pause.) ...
HUGO (mit tiefem Mitgefühl). Haben Sie irgendwelche
Sonderwünsche, Frau Direktor?
PECUNIA (seufzt). Allerdings. Die MONA LISA. Sein
Lieblingsbild.
HUGO (pfeift durch die Zähne). Das ist natürlich...
PECUNIA (mit vornehmer Resignation). Ein Aufpreis. Gewiß.
Sein LieblingsbiId. Fast schon ein Komplex. Seine Mama hieß
Mona Lisa. Seine - Lieblingssekretärinnen nannte er Lisa.
Mona, Lina, Lola, Mina, Limona, Ilona usw. Sie haben davon
gehört, nehme ich an. Alles für die Kunst. Und jetzt sein
letzter Wille: Die MONA LISA soll über seinem Sarg hängen.
HUGO (zögernd). Das ließe sich schon bewerkstelligen,
aber... Trauerpauschale SIEBEN ist so erschütternd,
menschlich gesehen... Die Sargtrüger weinen ununterbrochen
- zwiebelsaftgetränkte Taschentücher... Die MONA LISA
aber...
PECUNIA (schluchzt). ... LÄCHELT. Ja. Sie lächelt.
HUGO (tröstend). In Trauerpauschale FÜNF ist viel von
Hoffnung die Rede. Einem strahlenden Wiedersehn im
Jenseits...
PECUNIA. Nein. SIEBEN. Schon wegen der Konkurrenz.
HUGO (vorsichtig). Das Lächeln könnte eventuell falsch
ausgelegt werden, Gnädige...
PECUNIA (achselzuckend). Ich weiß. Aber glauben Sie mir, er
hat seinen ... Sekretärinnen viel weniger hinterlassen, als
die Skandalblätter schreiben. Trotzdem, ich gestehe: Das
Lächeln Irritiert. (Schluchzt.) Aber die MONA LISA muß es
sein. Testamentsklausel. Nichts zu machen laut Notar.
HUGO (wird professionell). Tja, wenn das die Situation Ist,
dann - dann muß die MONA LISA funktional-translatorisch
behandelt werden.
PECUNIA (verblüfft). Wie meinen Sie das?
HUGO (lächelt überlegen, steht auf, geht im folgenden
dozierend auf und ab). Die funktional-translatorische
Kulturverwertung geht von einem einfachen Prinzip aus. "Für
Translation gilt, 'Der Zweck heiligt die 'Mittel'" (V
101).*
PECUNIA. Komischer Zufall. Das war Paardappels
Lieblingsspruch. Meistens fügte er hinzu: "Hauptsache, die
Kasse stimmt".
HUGO. Translatorisch ausgedrückt heißt das: Hauptsache, die
Funktion stimmt. "Oberstes Kriterium für eine
Translationsentscheidung ist die (zu begründende) F u n k t
i o n des Translats als Zielinformationsangebot" (V 86).
PECUNIA. Und was heißt das?
HUGO. Wie gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Die MONA
LISA muß zweckentsprechend bearbeitet werden. Wir nennen
eine solche Bearbeitung "Translation".
PECUNIA. Ist das Ihr Ernst? Die MONA LISA ist doch ein
Kunstwerk, ein - ein Original, ein - ein Kunstdenkmal. Ich
denke...
HUGO (entgegenkommend). Ich verstehe Ihre Bedenken. Sie
sind in der Tradition begründet. Aber glauben Sie mir:
Jeder Betrachter - wir sagen "Rezipient" - sieht die MONA
LISA anders. Jeder Hörer hört Mozart anders. Jeder Leser
liest Goethe oder Eco anders. Dieses ANDERS wird von der
funktionalen Translatorik bewußt und strategisch
hergestellt. Die funktionale Translatorik durchbricht somit
ein Tabu und formuliert mutig die Wahrheit, die bisher nur
hinter vorgehaltener Hand, als Geheimtip unter
Eingeweihten, von Ohr zu Ohr geflüstert wurde. Diese
Wahrheit heißt: ES GIBT ÜBERHAUPT KEINE ORIGINALE, ES GIBT
NUR REZEPTIONSVARIANTEN.
PECUNIA. Und ich dachte immer - da darf man nichts ändern!
HUGO (lacht). Man darf nicht nur - man MUSS! Kunstwerke
sind Gebrauchsartikel, genau wie literarische Werke. "Die
leidige Dichotomie zwischen Gebrauchstexten und
Kunsttexten" (HM 55)+ ist eine Sache der
Vergangenheit.
PECUNIA. In unserer Werbeabteilung arbeitet ein bekannter
Lyriker.
HUGO (unbeirrt fortfahrend). Das Gesetz des Marktes. Der
Kunde ist König. "Niemand kann zwei Herren zugleich dienen"
(V 63). Translation ist ein Sonderfall von International
Marketing. Die Marketing-Strategie orientiert sich an den
zielkulturellen Kundenbedürfnissen. Logisch, nicht wahr?
PECUNIA. So ähnlich hat das der Paardappel auch immer
gesagt. Aber die Kunst war ihm heilig.
HUGO (nachsichtig). Wegen der hohen Rendite dieser Form von
Kapitalanlage. Ansonsten handelt es sich bei der
Originalgläubigkeit um provinziellen "Europazentrismus" (HM
27). "Es muß ganz klar erkannt werden, daß die Beibehaltung
des Zwecks, wie sie Translationen oft zugeschrieben wird,
eine kulturspezifische Regel, keine Grundforderung einer
allgemeinen Translationstheorie ist" (V 103).
PECUNIA. Da kann man also jetzt nach Belieben schalten und
walten?
HUGO. Nein! Im Gegenteil! Man muß machen, was der
prospektive Kunde will! "Beispiel: Homers ILIAS war der
Fernsehersatz seiner Zeit; man konnte sich mit den
'tapferen Helden' identifizieren. Welcher Erwachsene tut
das heute noch?" (V 104) Welche Konsequenz ergibt sich
daraus? Raten Sie mal, Gnädige Frau...
PECUNIA. "DALLAS"?
HUGO (anerkennend). Genau. DALLAS ist der Homerersatz
unserer Zelt.
PECUNIA. Dann ist also praktisch alles...
HUGO. Der Ersatz von irgendetwas.
PECUNIA. Daher kann praktisch alles...
HUGO. Gegen irgendetwas anderes eingetauscht werden.
PECUNIA. Irgendwie logisch. Ökonomisch gesehen, meine ich.
HUGO. Erstaunlich, daß diese grundlegenden Wahrheiten den
Theoretikern der Kulturverwertung so lange verborgen
geblieben sind. Wert = Tauschwert! Translation =
Kundendienst! Translationstheorie = prospektive
Marktforschung! Translatorisches Handeln = Handel mit
Originalersatz!
PECUNIA. Mir fällt da nur so ein... Könnte translatorisches
Handeln, wie Sie das nennen, nicht auch so gesehen werden,
daß man das Original möglichst unverändert
weitervermarktet? Sone Art Mischung aus Kunsthandel und
Denkmalschutz?
HUGO (kategorisch). Nein! Wegen der Handlungstheorie! Hören
Sie: "Eine Handlung ist auf Veränderung von etwas
gerichtet" (HM 41). "Gesteuert wird diese Handlung von
Erwartungen des Produzenten über die Rezipienten und deren
Situation(en)" (V 122). "Ein Translator bietet nicht mehr
oder weniger Information als ein Ausgangstextproduzent; ein
Translator bietet a n d e r e I n f o r m a t i o n a u f a
n d e r e W e i s e a n " (V 123). Darf ich Ihnen
vielleicht ein literarisches Beispiel aus unserer Praxis
geben? Ich möchte Sie aber nicht langweilen....
PECUNIA. Nur zu. Marketing-Fragen interessieren mich sehr.
Und Sie plaudern so charmant...
HUGO. Oh, Kundendienst. - Tja, also nehmen wir "ULYSSES"
von Joyce. Auf englisch lautet der Anfang folgendermaßen:
"Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead,
bearing a bowl of lather on which a mirror and a razor lay
crossed. A yellow dressing-gown, ungirdled, was sustained
gently behind him by the mild morning air. He held the bowl
aloft and intoned: 'Introibo ad altare Dei'." Nun zur
Translation. Ohne prospektive Marktstrategie würde das
einer vielleicht so wiedergeben: "Würdevoll kam der feiste
Buck Mulligan aus dem Treppenschacht, eine Schüssel mit
Schaum, auf der ein Spiegel und ein Rasiermesser gekreuzt
lagen, vor sich hertragend. Ein gelber Schlafrock mit losem
Gürtel wurde von der milden Morgenluft sanft hinter ihm
aufgebläht. Er hob die Schüssel in die Höhe und stimmte an:
'Introibo ad altare Dei'."
PECUNIA. Und - das ist falsch?
HUGO. Nicht falsch. Schlimmer: Nicht funktional! Die
Translationshandlung ist nicht "von Erwartungen des
Produzenten über die Rezipienten" (V 122) etcetera
gesteuert!
PECUNIA. Aha. Und wie wäre es richtig?
HUGO. Angenommen, wir hätten ein feministisch gesinntes
Lesepublikum. Dann würde sich etwa folgende Variante
empfehlen: "Majestätisch kam die füllige Titty Milligan vom
Treppenabsatz, eine Schale mit Schaum, auf der ein Spiegel
und ein Rasiermesser kreuzweise lagen, in den Händen. Ein
schwarzes Négligé mit tiefem Ausschnitt bauschte sich sanft
hinter ihr im lauen Abendwind. Sie hielt die Schale hoch
und intonierte: 'Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen'."
PECUNIA. Kaum wiederzuerkennen.
HUGO. Adressatenorientiert, also funktional angemessen. Die
nächste Variante richtet sich an die DDR-Jugend. ULYSSES
als marxistischer Erziehungsroman: "Aufrechten Ganges kam
Genosse Buck Mulligan mit seinem Rasierzeug die Turmtreppe
herauf. Als er ins Freie trat, blähte ihn der frische
Ostwind den roten Morgenrock zum Segel. Buck hob das
Rasierbecken, auf dem Hammer und Sichel kreuzförmig lagen,
in die Höhe und schmetterte fröhlich: 'Proleten aller
Länder, jetzt wird der kapitale Bock geschoren!"'
PECUNIA. Gefällt mir nicht.
HUGO. Weil Sie nicht die richtige Adressatin sind.
PECUNIA. Ah, ich verstehe!
HUGO. Zum Schluß noch diese Version. Für Nonnenklöster:
"Gesenkten Hauptes kam der fromme Benedikt Mulligan die
Treppe hoch und trat ins Freie, ein Seifengefäß in Händen,
worauf kreuzförmig Spiegel und Rasiermesser lagen. Im
milden Morgenwind wölbte sich weich hinter ihm der
schneeweiße Morgenmantel. Benedikt hielt das Gefäß gen
Himmel und sang mit klarer Stimme: 'Introibo ad altare
Dei'."
PECUNIA. Bißchen langweilig. Finden Sie nicht?
HUGO. Eben. Hilft den Nonnen beim Einschlafen. - Aber, um
auf Ihr Problem zurückzukommen. Das Lächeln der MONA LISA
wird selbstverständlich wegretuschiert.
PECUNIA. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
HUGO. Stattdessen werden wir der schönen Dame ein paar
entzückende Tränen auf die Wangen malen.
PECUNIA (lächelt unter Tränen). Ich danke Ihnen von Herzen!
HUGO. Kundendienst! - Sonst noch Sonderwünsche?
PECUNIA (gefühlvoll). Machen Sie mir ein Angebot...
*) V= K.Reiß/H.J.Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen
Translationstheorie, Tübingen 1984
+) HM= J.Holz-Mänttäri, Translatorisches
Handeln, 1984