Faust und die
Übersetzungswissenschaft. Die kürzeste Tragödie der
Welt.
Von Rainer Kohlmayer.
(Studierzimmer)
FAUST. Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends
würdger und schöner brennt
Als in dem Neuen
Testament.
Mich drängts, den
Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem
Gefühl einmal
Das heilige
Original
In mein geliebtes
Deutsch zu übertragen.
(Er
schlägt ein Volum auf und schickt sich an)
Geschrieben steht
: "Im Anfang war das W o r t !"
Hier stock ich
schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das
"Wort" so hoch unmöglich schätzen,
Wenn ich vom
Geiste recht erleuchtet bin.
Den Linguisten
frag ich willig.
Dies Buch ist
sicher gut, es war nicht billig.1
(Schlägt
auf und liest Seite 202)
"Eine Übersetzungsschwierigkeit liegt überall dort vor, wo,
ausgangssprachliches Textverständnis vorausgesetzt, eine
lexikalische, syntagmatische oder syntaktische
Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen ausgangs- und
zielsprachlichem Text-Segment nicht möglich ist und
substitutive Übersetzungsprozeduren eindeutig
registrierbare sprachliche Fehlleistungen zur Folge
hätten."
Mir deucht die
Stelle eine dunkle.2
Vielleicht daß
eine andre heller funkle.
(Schlägt
Seite 266 auf und liest)
"Zielsprachliche Textdeformationen der hier diskutierten
Art sind das Ergebnis einer unstatthaften Simplifizierung
des Transferprozesses. Sie zeigen, daß die zielsprachliche
Reproduktion häufig schwieriger ist als die
ausgangssprachliche Textrezeption und daß translatorische
Anpassungsdynamik durch translatorische Anpassungsstatik
ersetzt wird, weil die zielsprachliche
Paraphrasierungsfähigkeit fehlt."
Ich wills, doch
kanns nicht fassen.
Will mein
gelehrter Freund hier mit mir spaßen?
Ich muß gestehn,
ich bin etwas verwirrt.
's ist schwer zu
sagen, ob er recht hat oder irrt.3
Was ists doch für
ein Wortschlamassel,
Der sich hier
wälzet mit entsetzlichem Geprassel.
Bin ich im Ersten
Teil schon ein Verdammter?
Nein, Faustus,
gib nicht auf, bist schließlich Staatsbeamter!4
(Liest
Seite 198 f.)
"Eine weitere Möglichkeit, Komplikationen bei der
Typologisierung von Übersetzungsschwierigkeiten abzubauen
und zu einem überschaubaren Gegenstandsbereich zu kommen,
ist der Verzicht auf die Einbeziehung der Person des
Übersetzers aus dem im folgenden zu entwickelnden
Darstellungszusammenhang. Seine Ausschließung ist deswegen
notwendig, weil er keine abstrakte Entität darstellt,
sondern ein biologisch, psychologisch, gesellschaftlich und
geographisch determiniertes menschliches Wesen mit einer
bestimmten Persönlichkeitsstruktur, das über je spezifische
Fähigkeiten und Strategien der ausgangssprachlichen
Textanalyse und der zielsprachlichen Textsynthese verfügt
und aus einer subjektiven Bedingtheitssituation heraus den
interlingualen Transfer in Angriff nimmt."5
(Klappt
das Buch zu, starrt eine Weile ins Leere)
Daß ich nicht
recht begreif, wie kommt das nur?
Ich hab doch
wahrlich kein so schlechtes Abitur.
Mir deucht, ich
schlucke Stroh und Heu,
So witzlos ist
der Stil, so voller Spreu,
So wenig
abgeklärt, so borstig, voller Ecken,
Ein jeder Satz
bleibt stachlicht mir im Halse stecken.
Ist denn das
Übersetzen derart kompliziert?
Ist es der Autor
nur, der schlecht sich exprimiert?
Fürwahr, da stoß
ich auf den Grund der Sache :
Das Buch schrieb
ein Professor, also haperts mit der Muttersprache!
In Deutschland
muß man unverständlich schreiben,
Will man als
Hochschullehrer respektabel bleiben.
Hat ein Gelehrter
etwas mitzuteilen,
Dann braucht er
dafür mindstens tausend Zeilen.
Ein braves
Körnchen Wahrheit wärs, bot ers kompakt,
Doch leider wirds
in Disteln, Heu und Stroh verpackt.
Die Stachelkost,
scheint mir, ist nur für Esel :
Man kaut und kaut
und findet kaum ein Brösel.
Mir hängt das
wüste Zeug zum Halse raus,
Was solls! - Zum
Glück lockt mich ein beßrer Schmaus.
Für heute pfeif
ich auf das Übersetzen
Und geh zu meinem
Gretchen mich ergetzen.
(Beim
Hinausstürmen vergißt er, die Tür aufzumachen. Er betastet
die Beule an seinem Kopf, dann stöhnt er:)
Aber Heinrich!
Mir grauts vor
mir.
(Während
Goethe sich im Grabe umdreht, das Publikum ungläubig
staunt, fällt langsam der Vorhang)
Anmerkungen:
1) Wolfram Wilss : Übersetzungswissenschaft. Probleme und
Methoden. Stuttgart 1977. DM 40.-
2) Die Stelle ist nicht so dunkel, wie Faust meint. Der
Sprachwissenschaftler versucht lediglich mitzuteilen, daß
Übersetzungsschwierigkeiten nur deshalb auftauchen, weil
die verschiedenen Sprachen nicht miteinander identisch
sind.
3) Der Linguist hat recht : Übersetzungsfehler entstehen
durch falsches Übersetzen; das Verstehen ist "häufig"
leichter als das Übersetzen.
4) Die zwanzigteilige Fernsehserie "Fausts Verbeamtung"
wird demnächst in der Bundesrepublik anlaufen. Sie soll die
Verzerrung des Goethebildes in der zwölfteiligen DDR-Serie
"Wilhelm Meisters Lehr- und Unterwanderjahre" entzerren.
5) Die Person des W i s s e n s c h a f t l e r
s dagegen i s t eine abstrakte Entität,
also kein biologisch, psychologisch, gesellschaftlich und
geographisch determiniertes menschliches Wesen mit einer
bestimmten Persönlichkeitsstruktur etc. Der Wissenschaftler
befindet sich also - thomistisch gesprochen - im Zustand
der Engel. Die scholastische Einteilung der
Sprachwissenschaftler in Professoren (Seraphim), Räte
(Cherubim) und Angestellte (Thronen bzw. Drohnen) ist
natürlich rein geistig. Einige Wissenschaftler möchten
allerdings nicht auf die biologische Komponente verzichten;
sie möchten nicht nur gedruckt, sondern auch gedrückt
werden; außerdem könnte ein forscher Forscher nicht auf
seine Ellbogen verzichten (Fortbewegung im Flachbereich!).