Neujahr

Von Judith Händeler.

Marie kannte den Weg in- und auswendig. Sie war ihn unzählige Male gegangen. Jeden Tag war sie nach der Arbeit gekommen, um ihn zu besuchen und um ihn um Rat zu fragen. Er hatte immer zugehört, war immer dort gewesen. Jetzt hatte sie zum ersten Mal Angst. Sie fürchtete sich davor, wieder vor ihm zu stehen, denn heute würde sie erklären müssen, warum ihre Besuche einfach aufgehört hatten, warum sie vom einen auf den anderen Tag nicht mehr gekommen war.
Ihre Schritte wurden immer langsamer, und der Schnee, so schien es, knirschte immer lauter unter ihren Füßen. In der Ferne hallten die zu früh gezündeten Kracher. Gedankenverloren ging Marie immer weiter, bog mal hier und mal dort ab, nahm nur verschwommen die vielen Lichter wahr, die wie sie ihren Weg durch die Dunkelheit zu suchen schienen. In ihrem Kopf kreisten die Wörter und Sätze wirr umher, die sie sich zu Hause zurechtgelegt hatte, die sie ihm sagen wollte. Immer und immer wieder hatte sie ihre Erklärungen umgestellt, Formulierungen verworfen und dann doch wieder hinzugefügt. Ihre Rede musste perfekt sein, denn schließlich sollte er ihr verzeihen. Sie merkte nicht, wie sich die Worte ihren Weg nach draußen suchten und wie ihre Lippen die Laute formten. Die Worte kamen einfach aus ihr heraus, und sie sprach sie leise vor sich hin, während sie allein über die schneebedeckten Wege schritt. Ihr heißer Atem trieb die Worte in dünnen Nebelwirbeln vor ihr her.
"Es tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war, und vor allem, dass ich ohne jede Erklärung fortgeblieben bin. Eine Entschuldigung habe ich nicht. Ich bin nicht mehr gekommen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, aber jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mehr gekommen bin. Ich wollte dir schon viel früher erklären, warum ich weggeblieben bin, aber ich habe mich nicht getraut. Ich war feige. Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll, aber heute muss es sein. Auf den Tag genau vor fünf Jahren haben wir uns schließlich kennengelernt. Damals auf Roberts Silvesterparty. Weißt du noch? Außerdem kann und will ich diese Lüge nicht mit ins neue Jahr nehmen, deshalb bin ich heute hier. Naja, eine Lüge ist es eigentlich nicht wirklich. Ich habe nicht gelogen, sondern ich habe dir etwas verschwiegen. Erinnerst du dich noch, als ich zum letzten Mal hier war? Das war im Mai, zwei Wochen vorher war Sabines Geburtstagsparty gewesen, ich habe dir davon erzählt. Ich habe dir erzählt, dass es sehr lustig war und dass wir unglaublich viel gelacht haben. Nun, ich habe dir nicht erzählt, dass ich auf der Party jemanden kennengelernt habe. Einen Arbeitskollegen von Sabine. Wir waren uns gleich sympathisch, haben den ganzen Abend zusammen gelacht, getanzt und geredet. Nach der Party hat er mich nach Hause begleitet, und ich war überglücklich, als er mich für den nächsten Tag zum Essen eingeladen hat. Danach haben wir uns jeden Tag gesehen. Wir haben uns Hals über Kopf in einander verliebt. Als mir das klar wurde, bin ich nicht mehr gekommen. Ich konnte dir einfach nicht mehr gegenübertreten. Zwei Wochen bin ich immer noch nach der Arbeit zu dir gekommen, abends aber bin ich zu ihm gegangen. Ich weiß, es war feige, einfach wegzubleiben, dir nicht sofort die Wahrheit zu sagen. Das tut mir leid! Sabine sagte gleich, du würdest dich für mich freuen, du hättest es sicher nicht anders gewollt. Wahrscheinlich hatte sie sogar recht, aber ich --- "
Marie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie schon längst angekommen war, ihre Beine hatten rechtzeitig angehalten, sie wusste nicht, wie lange sie schon da stand, aber sie war sich sicher, dass er alles gehört hatte, denn immerhin war er jetzt so nah, dass sie ihn spüren konnte.
"Ich habe dir deine Lieblingsblumen mitgebracht. Zur Entschuldigung." Sie kniete sich nieder und legte die zarten, rosafarbenen Orchideen auf den Schnee. Zögernd streckte sie die Hand aus, zog sie wieder zurück und streckte sie dann doch wieder nach vorne. Ihre Finger legten sich weich auf den kalten Schnee, und sie begann, langsam den Schnee vom Grabstein zu streichen. Ihre Bewegungen waren zärtlich, so als würde sie ihn selbst berühren. Ein Gefühl, das sie mehr als alles andere auf der Welt vermisste. Sie merkte, wie sich ihre Augen mit Wasser füllten, und noch einmal flüsterte sie eine Entschuldigung in die Nacht. "Heute wären wir genau fünf Jahre zusammen. Es tut mir so unendlich leid." Und auf einmal spürte sie, dass er ihr schon längst verziehen hatte. "Danke", flüsterte sie. Sie atmete tief durch, und plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, aber diesmal waren sie nicht vorformuliert, diesmal erzählte sie ihm alles, wie es ihr in den Sinn kam. Genau so, wie sie es immer gemacht hatte. So, als wäre sie nie fort gewesen.