Die Notlüge

Von Doris Hummel.

"Jaa...?", gähnte sie in den Hörer.
"Hallo, hier ist die Mami!", trällerte es ihr ins Ohr.
Sie stöhnte. Womit hatte sie das nur verdient?
"Liegst du etwa noch im Bett?"
"Es ist mitten in der Nacht, Mutter!"
"Mitten in der Nacht? Ich hab mich wohl verhört! Es ist halb acht!"
Wie konnte man zu dieser unchristlichen Zeit so widerlich fit und fröhlich sein?
"Heute ist Sonntag, mein Gott."
"Aber heute ist doch nicht irgendein Sonntag, Kind."
"Dessen bin ich mir schmerzlich bewusst", dachte sie.
"Kannst du nicht später nochmal anrufen? Ich will schlafen, verdammt nochmal."
"Wie sprichst du denn mit deiner Mutter?"
Sie hatte nicht übel Lust, einfach aufzulegen. Aber dann hätte sie wieder hundert Jahre Theater. Und die 'Du-bist-doch-das-undankbarste-Geschöpf-auf-Gottes-Erdboden'-Rede konnte sie beim besten Willen nicht mehr hören.
"Jetzt reg dich wieder ab. Was ist denn nun?"
"Was ist denn nun? Was ist denn nun? Das wird ja immer schöner! Da will man der einzigen Tochter den Tag versüßen, indem man ihr freundlich zum Geburtstag gratuliert, und dann muss man sich beleidigen lassen. Du bist doch wohl das undankbarste - "
"Ich weiß, Mutter, ich weiß. Und wenn du dir erlaubt hättest, so mit deiner Mutter zu reden, hätte sie dich vermutlich enterbt. Und das, wo's doch früher sowieso nichts gab - "
"Mach dich nur lustig. Euch geht's doch viel zu gut."
"Mit würde es noch bedeutend besser gehen, wenn ich endlich mal wieder ausschlafen könnte."
Einen kurzen Moment schwiegen beide. Es war wirklich schlimm genug, dass sie 30 wurde.
"Am besten, ich rufe dich gar nicht mehr an. Dann beschwer dich aber auch nicht, wenn ich eines Tages tot in meiner Wohnung liege und du mal wieder nichts davon gewusst hast."
"Jaja, schon gut. Du hast ja recht. Es tut mir leid."
"Sicher."
"Mutter, bitte! Heute ist schließlich mein Geburtstag."
"Ach, jetzt ist auf einmal dein Geburtstag?"
"Mutter!"
"Schon gut. Vergessen wir das. Ich wünsche dir alles Gute zu deinem 30. Geburtstag, mein Schatz."
"Danke", seufzte sie.
"Na, du bist ja ein richtiger Ausbund an guter Laune und unbändiger Freude."
"Jetzt machst du dich lustig. Ich fühl mich schon elend genug", jammerte sie.
"Ich versteh nicht, warum ihr Kinder so ein Theater um die 30 macht!"
"Weil's der Anfang vom Ende ist."
"Der Anfang vom Ende, so ein Unsinn."
"Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht auch schlagartig alt und verbraucht gefühlt hast, als du 30 geworden bist."
"Ha, für sowas hatten wir damals keine Zeit. Schließlich hatten dein Vater und ich drei hungrige Mäuler zu stopfen, und dann der Laden und deine todkranke Oma noch obendrauf. Deine Sorgen möcht ich haben. Hast du nichts Besseres zu tun? Schau dich lieber mal auf dem Heiratsmarkt um. Erst gestern war da diese Kontaktanzeige in der Zeitung. Arzt mit eigener Praxis, Mitte 30, 1,80m groß, schlank..."
Nicht das auch noch! "Herr, gib mir Geduld", flehte sie innerlich.
"Bitte, Mutter. Verschon mich damit. Wenigstens heute."
"Ich will doch nur dein Bestes, Kind. Aber dir kann man's ja nie recht machen."
Sie antwortete nicht.
"Bist du noch dran, Schatz?"
"Ja, Mutter, ich bin noch dran. Ist noch was?", grummelte sie.
"Allerdings. Deine Tante Gerda und ich haben eine kleine Überraschung für dich."
Das verhieß nichts Gutes. Tante Gerda war berüchtigt für ihre trockenen Marmorkuchen und ihre selbstgestrickten Geschenke aus kratziger, altrosafarbener Wolle.
"Also komm mal endlich aus dem Quark, spring unter die Dusche und fahr zu uns rüber."
Unmöglich. Nicht heute. Nicht Tante Gerda. Beim besten Willen nicht.
"Ach, Mami, das tut mir jetzt leid", säuselte sie. "Aber ich muss ein paar Stunden ins Büro."
"Am heiligen Sonntag?"
"Ja, leider."
"An deinem Geburtstag!?"
"Lässt sich unmöglich verschieben. Die Präsentation ist morgen früh um neun, und an den Entwürfen muss dringend noch gefeilt werden."
"Kann das denn nicht jemand anders machen?"
"Ich bin die Projektleiterin, Mutti."
"Du arbeitest dich nochmal zu Tode, Kind."
"Was soll ich machen? Ich kann's doch auch nicht ändern."
"Und wenn wir dir wenigstens ein Stück Marmorkuchen im Büro vorbeibringen und kurz auf dich anstoßen?"
"Nein, Mutter. Das macht keinen guten Eindruck. Außerdem haben wir wirklich alle Hände voll zu tun."
"Na, wenn du meinst..."
Gottseidank, das war nochmal gut gegangen.
"Ja, glaub mir. Aber was hältst du davon, wenn ich Samstagnachmittag vorbeischaue? Dann holen wir das in aller Ruhe nach." "Naja, wieso nicht? Den Marmorkuchen kann man ja auch einfrieren."
"Nein, nein, esst ihr den mal ruhig heute schon. Ich bringe dann Samstag Kuchen mit."
"Du kannst doch nicht deinen eigenen Geburtstagskuchen mitbringen!"
"Nein, wirklich. Ich möchte es gerne. Als kleine Wiedergutmachung, dass aus eurer Überraschung heute nichts wird."
"Na schön. Einverstanden. Dann sehen wir uns Samstag."
"Ich freu mich. Grüß Tante Gerda."
"Mach ich. Und du überarbeite dich nicht. Würde mich ja nicht wundern, wenn du schon ein Magengeschwür hättest, bei all dem Stress."
"Keine Sorge, Mutti, mir geht's gut."
"Und iss auch mal was."
"Ja, Mutti."
"Von Kaffee allein kann man nicht leben."
"Ich weiß, Mutti."
"Und rauch nicht so viel."
"Nein, Mutti."
"Na gut, dann bis Samstag."
"Ja, bis Samstag."
"Pass auf dich auf, Kind."
"Du auch."
"Tschüss, mein Schatz."
"Tschüss, Mutti."
Sie legte auf.
Endlich Ruhe. Den ganzen Tag nichts zu tun. Und dann noch die ganze nächste Woche. Herrlich. Sie kuschelte sich wieder unter die Decke, und wenige Minuten später war sie eingeschlafen.